Voll der Gnade
Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria
„Unbefleckt“ bedeutet
„ohne Makel (der Sünde)“. Es ist ein marianischer Titel, der eine wichtige
Wahrheit unseres Glaubens zum Ausdruck bringt; es ist ein kostbarer Titel. Und
doch drückt er – wie es bei unseren Worten immer geschieht – nicht das ganze
Geheimnis aus, sondern nur einen Teil. Tatsächlich beschränkt sich dieser Titel
darauf, zu sagen, was Maria nicht ist: Sie ist nicht befleckt. Und was
Maria nicht hat: Sie hat keine Sünde. Ich denke, wir sollten versuchen, diesen
Titel in unserer Überlegung ins Positive zu wenden. Bei der Erschaffung der
Jungfrau Maria hat Gott sie nicht nur vor dem Bösen bewahrt, er hat sie
auch mit allem Guten bekleidet. Aus diesem Grund werden ihr in der
Antiphon der heutigen Messe folgende Worte zugeschrieben:
Von Herzen will
ich mich freuen über den Herrn. Meine Seele soll jubeln über meinen Gott. Denn
er kleidet mich in Gewänder des Heils, er hüllt mich in den Mantel der
Gerechtigkeit, wie eine Braut ihr Geschmeide anlegt (vgl. Jes 61,10).
In der liturgischen
Tradition können wir Titel finden, die das Geheimnis, das wir heute in Maria
feiern, im positiven Sinne zum Ausdruck bringen: Sie ist die „Ganz-Heilige“ (Panaghia,
wie unsere Geschwister der Ostkirchen sagen), die „Ganz-Schöne“ (Tota
pulchra, wie wir auf lateinisch sagen). Aber der passendste Titel ist der,
mit dem der Engel Gabriel Maria im heutigen Evangelium anspricht (Lk 1,26-38):
„Voll der Gnade“ (auf griechisch: kecharitoméne, was wörtlich bedeutet:
Du, die du vollkommen von Gnade erfüllt wurdest und bleibst).
Halten wir also einen
Moment inne, um über das Geheimnis der Gnade (charis), von der Maria
voll ist, nachzudenken und es zu verkosten!
Wir müssen dieses
Geheimnis wiederentdecken, denn das Wort „Gnade“ ist entwertet und hat an Wirksamkeit
verloren. Und wir heute müssen es wiederbeleben, es für die Christen lebendig, pulsierend
machen; denn es ist für uns lebenswichtig, die Gnade zu kosten und in die Gnade
„verliebt zu sein“.
Wenn wir das Neue
Testament lesen, erkennen wir, dass „Gnade“ ein Schlüsselwort ist. In der
zweiten Lesung (Eph 1,3-12) verkündet Paulus, dass Gott uns bestimmt hat
„zum Lob seiner
herrlichen Gnade. Er hat sie uns geschenkt in seinem geliebten Sohn.“
Im Grunde haben die
Apostel der Welt eine Botschaft zu bringen: die Botschaft der Gnade. So,
dass wir in der Apostelgeschichte drei- oder viermal den Ausdruck „Evangelium
der Gnade“ finden; das heißt, das gesamte Evangelium wird in diesem Wort
zusammengefasst: Die Gnade Gottes. Wenn Paulus oder andere Apostel Briefe an
die Gemeinden schreiben, so lautet ihr Gruß zu Beginn: „Gnade sei mit euch und
Friede von Gott, unserem Vater, und von unserem Herrn Jesus Christus“.
Die Gnade ist der tiefe
Kern unserer christlichen Identität und sie ist auch der tiefe Kern der Kirche.
Die Kirche hat ihren Daseinszweck gerade als Hüterin der Gnade, als diejenige,
die den Menschen die Gnade übermittelt. Und Maria, die voll der Gnade
ist, ist das vollkommene Abbild der Kirche, das heißt unserer Gemeinschaft.
Auch wir sind gerufen, mit Gnade erfüllt zu werden, um der Welt Jesus zu
schenken!
Pater Raniero
Cantalamessa gebraucht dieses Bild: Wenn man Kupferdrähte nimmt, die alle identisch
sind und die gleiche Länge und Dicke haben und sie auf einem Tisch auslegt,
dann sind sie nicht voneinander zu unterscheiden. Wenn man aber einen dieser
Drähte an Strom anschließt, dann wird man den Unterschied merken. Wenn ihr sie
nur anseht, scheinen alle gleich zu sein, aber wenn ihr diesen einen berührt,
dann bekommt ihr von ihm einen Stromschlag - und von den anderen nicht.
So ist es mit den
christlichen Gemeinden, den Pfarreien, den religiösen Instituten. Jeder von uns
ist ein Kupferdraht. Nur dass einige nicht mit dem Strom verbunden sind. Ihr
berührt sie und es passiert nichts. Andere hingegen sind an den Storm der Gnade
angeschlossen, das heißt mit Christus verbunden, der mit der Macht des Heiligen
Geistes wirkt: Wenn ihr mit diesen „Drähten“ in Berührung kommt, dann merkt ihr
den Unterschied!
Ein Christ, eine
Gemeinschaft, die die Gnade ablehnen würde, die einfach das eigene „natürliche“ Leben leben wollte – was wären
sie in den Augen Gottes, der Engel, Mariens ...? Sie wären leere Hüllen, eine
tote Realität.
Nachdem wir nun
verweilt haben, um die Schönheit Mariens, die „voll der Gnade“ ist, zu betrachten, nehmen
wir den Weg des Advents wieder auf, der ein Weg der Bekehrung ist: Stellen wir
die Gnade Gottes wieder in den Mittelpunkt unseres Lebens! Schätzen wir die
Sakramente Christi, die Zeichen und Werkzeuge sind, durch die uns die Gnade
erreicht! Es geht darum, das Geschenk anzunehmen, das uns in Christus gegeben
wird; das Geschenk, durch das auch wir nach dem Bild Mariens
“erwählt wurden vor
der Grundlegung der Welt, damit wir
heilig und untadelig leben vor Ihm.“
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